10 - Viele Glieder eine Kette

Dokumentation

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Viele Glieder bilden eine Kette: Kettenwanderung


Das Bild der Kette und der Begriff der Kettenwanderung helfen uns, den Auswanderungsvorgang besser zu verstehen. Kettenwanderung heißt, daß zukünftige Wanderer durch Beziehungen zu vorhergehenden Wanderern von günstigen Gelegenheiten erfahren, Transportmöglichkeiten, anfängliche Unterkunft und Arbeit erhalten, (60) so wie wir es am Beispiel des Lustenauers Albert Fitz zeigen konnten. Dabei wurde auch deutlich, welch große Bedeutung die Kommunikationswege hatten und wie versucht wurde, hier Informationsmanagement zu betreiben, d.h. die Vorarlberger Öffentlichkeit im Sinne der eigenen Interessen zu informieren.
Die zweite Gruppe von Vorarlberger Auswanderern, welche im Dezember 1921 in Santos eintraf, war noch von Dr. Rudolf Grabher organisiert worden. Diese Familien gingen nicht nach Itararé, sondern auf eine Kaffeeplantage im Staat São Paulo. Das weitere Schicksal einiger dieser Familien läßt sich in Umrissen nachzeichnen. Daß einige von ihnen doch noch nach Itararé gegangen sind, zeigt die Anziehungskraft der Vorarlberger Siedlung.

Albert Blum aus Dornbirn etwa, der gemeinsam mit seinen Geschwistern Rosa und Rudolf Blum ausgewandert war, verließ wie die meisten übrigen schon nach wenigen Monaten die Fazenda. Er ging in die Stadt São Paulo, wo er zwei Jahre in einer Metallfabrik arbeitete, bevor er doch in die Kolonie bei Itararé zog, wo er vier Jahre als Landwirt lebte und auch eine kleine "Venda", einen Gemischtwarenladen, eröffnete.
Dort heiratete er 1927 Sofie Bösch, die Tochter des aus Lustenau ausgewanderten Tobias Bösch. Etwa zwei Jahre später versuchte er sein Glück als Sägewerksbesitzer im Staate Paraná, scheiterte jedoch und zog mit seiner Familie anschließend auf eine deutsche Kolonie bei Assis, wo er wieder eine "Venda" aufbaute. (61) Den Laden in der Kolonie bei Itararé übernahm Fritz Hölzelsauer, bevor der als Schnapsbrenner und Diamantenhändler für einige Zeit nach São Paulo ging. Einige Jahre später übersiedelte er in die Stadt Itararé, wo er noch lebt. (62)

Auch Oscar Rhomberg aus Dornbirn, dem es anfangs auf der Kaffeeplantage — nach einem Brief zu schließen — nicht so schlecht ergangen war, zog mit seiner Familie in die Kolonie bei Itararé. Anfang der fünfziger Jahre wohnten er und seine Frau Marie Rhomberg, geb. Nagel, in São Paulo, ihre Kinder jedoch noch in der Stadt Itararé. (63)

Andere mit diesem zweiten Transport eingewanderte Vorarlberger scheinen direkt in die Stadt São Paulo gezogen zu sein, etwa die Familie Eduard Hofer aus Lustenau. Eduard und Sohn Gebhard Hofer fanden Arbeit in einer Kabelfabrik. Daniel Ulmer aus Dornbirn wurde in São Paulo wieder das, was er vor seiner Auswanderung gewesen war: Fabriksarbeiter. (64) Georg Hämmerle aus Lustenau scheint es nach Nova Petropolis verschlagen zu haben, wo er am 21. Mai 1924 im Alter von 42 Jahren verstarb. (65) Von den meisten verliert sich die Spur.

In den folgenden Jahren trafen aus Vorarlberg regelmäßig einzelne Personen, vor allem aber Familien in Itararé ein, zusammen sicherlich etwa 300 Menschen. (66) Etliche größere Auswanderungsaktionen wurden vorbereitet, unter anderem trug sich eine Tiroler Gruppe mit dem Gedanken, neben dem Vorarlberger-Dorf ein eigenes Tiroler-Dorf zu errichten. (67) Zerschlugen sich auch diese im großen Maßstab geplanten Ansiedlungsprogramme, so trugen sie doch dazu bei, daß die Kette nicht riß.

Die Übersiedler reisten entweder auf Kosten des Bundesstaates Brasilien, des Staates São Paulo oder auf eigene Kosten. Allein im Juni 1922 fuhren sieben Familien aus Vorarlberg nach Itararé. (68) Wenn auch längst nicht alle Vorarlberger Brasilien-Wanderer nach Itararé gingen (69) , sondern auch in diverse andere Gegenden, so war die Kolonie doch für viele eine Start- oder Zwischenstation. Etwa für Alois Schoder aus Vandans, der Ende 1921 vom Auswanderungsberater wieder selbst zum Auswanderer wurde. Er versuchte mit seiner Frau und zwei Kindern sein Glück zuerst als Kolonist im Staate Sta. Catarina, wo er auf eine Kolonie geriet, die ihm gar nicht behagte. Dann wurde er von einer der lokalen Revolutionen (70) des Jahres 1922 in den Norden gedrängt und landete — obwohl er von Anfang an zu den Kritikern dieses Projekts gehört hatte — in der "Colónia Austria" in Itararé. Dort blieb er bis 1926, bis er sich verpflichtet fühlte, den kleinen Hof in Vandans im Montafon zu übernehmen. Denn er hatte seiner Mutter versprochen, nicht zu verkaufen. (71) Für Alois Schoder bedeutete diese Rückkehr ein Scheitern, und die Heimfahrt beschrieb er als "eine Fahrt in die Verbannung". Er verarbeitete seine Sehnsüchte und seine Erinnerungen, indem er über seine Erlebnisse in Südamerika berichtete. (72) Unter anderem beschrieb er das "Einwandererhaus" auf der Fazenda da Corredeira, in welchem neu ankommende Kolonisten untergebracht wurden:

"Dieses lag ... mitten in einem Hain von dunkelgrünen Orangenbäumen, unter denen die goldgelben Früchte zu hunderten herumlagen. Das Gebäude hatte mehrere Zimmer und eine Küche; die Wände bestanden aus gespaltenen Brettern mit verschließbaren Fensteröffnungen, und als Decke diente das Schindeldach. Der Fußboden war auch hier die festgestampfte Erde. Dies würde jetzt unsere Wohnung sein. Nun, wir waren es zufrieden. In den Zimmern gab es auch Tische und Bänke und an den Wänden standen etliche Pritschen. Was wollten wir mehr!" (73)

Johann Josef Mayer aus Göfis war 1925 mit seiner Frau Juliana Mayer und zehn Kindern im Alter von sechs Monaten bis fünfzehn Jahren nach Itararé ausgewandert. Die Vorarlberger-Kolonie gefiel ihnen gar nicht, zu verschieden war alles von den Vorstellungen, die sie sich gemacht hatten. Sie zogen sofort nach São Paulo weiter, wo Johann Josef Mayer Arbeit als Schlosser fand. Doch das Leben in São Paulo war teuer, und sie empfanden die Verhältnisse insgesamt so bedrückend, daß sie nach nur einem Monat Aufenthalt in Brasilien nach Vorarlberg zurückkehrten. Das Geld für die Heimreise (6.800 Schilling) hatten ihnen — über Vermittlung von Vizekonsul Grabher — Verwandte geschickt. Bei ihrer Ankunft im November 1925 besaß die Familie nur noch, was Eltern und Kinder am Körper trugen. Die Kinder wurden auf die Verwandtschaft aufgeteilt, da ja auch keine Wohnung, keine Möbel, nichts mehr vorhanden war. Die Tochter Fini mußte, kaum hatte sie 1934 die Schule beendet, sechs Jahre lang bei ihrem Taufpaten im Haushalt und in der Landwirtschaft arbeiten, um die von ihm geliehenen 2.800 Schilling abzudienen. Zumindest hatten alle zwölf ihr Abenteuer überlebt. (74) Sie gehörten zu den vielen, die wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehrten, nachdem sich die Zukunftspläne in der Fremde nicht wie erhofft verwirklicht hatten. (75)

In den dreißiger Jahren schränkte Brasilien im Zusammenhang mit der ökonomischen Krise und einer dezidiert brasilianisch-nationalistischen Politik die Einwanderung ein – wie zehn Jahre zuvor die USA. Mit dem sogenannten "Anschluß" Österreichs ans nationalsozialistische Deutsche Reich kam die Auswanderung fast gänzlich zum Erliegen. Statt dessen begann die Zeit der Flüchtlingsströme im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg – nicht zuletzt nach Lateinamerika. (76)
ZU KAPITEL 11
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