11 - Wirtschatliche und sozi V

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Wirtschaftliche und soziale Verhältnisse


Die ersten Siedler in Itararé bezahlten an Dr. Herculano Pimentel, den Besitzer der Fazenda da Corredeira, 1200 Milreis für ein Los zu ungefähr 25 Hektar, später Ankommende dann 1500 bis 2500 Milreis. (77) Das entsprach den in Südbrasilien üblichen Preisen. (78) Die Kolonisten erwarben unterschiedlich große Landstücke, manche gar zwei Lose. Nur wenige waren in der Lage, den Kaufpreis sofort zu erlegen, die meisten zahlten in drei Jahresraten. Zur Bestreitung des Lebensunterhalts bis zur ersten Ernte — man schätzte etwa 600 bis 1000 Schilling pro Familie — waren die Kolonisten auf ihr Erspartes angewiesen und auf geringe Einkünfte, die sie als Landarbeiter zusätzlich erzielen konnten. (79) Für die ersten fünf Monate, solange die erste Gruppe der Siedler noch gemeinsam wirtschaftete, scheint es eine Art allgemeinen "Credit" gegeben zu haben, mit dessen Hilfe die auflaufenden Kosten bestritten wurden. (80)

Angebaut wurden zur Selbstversorgung Produkte wie Maniok, Bohnen, dann Mais zur Schweinezucht, vor allem aber Baumwolle für den Verkauf. Meusburger schätzte den Ertrag eines Hektars bester Baumwollpflanzung für 1922/23 auf 700 bis 800 Schweizer Franken, was dem Kaufpreis eines Landloses entsprach. (81) Von Josef Meusburger sind auch detailliertere, auf Angaben von Alwin Klocker beruhende Aufstellungen über den Ertrag der Kolonistenarbeit überliefert. So habe Alwin Klocker auf seinem Besitz mit fremder Arbeitskraft auf 1,6 Alqueiras, d.s. knapp vier Hektar, 520 Arrobas (7.800 kg) noch unentkernter Rohbaumwolle geerntet und dafür 7.800 Milreis erlöst (15 Milreis/Arroba). Davon seien ihm nach Abzug der aufgelaufenen Kosten 4.539 Milreis als Gewinn übergeblieben. Karl Weißmann hatte das Los Nr. 13 mit insgesamt 33 Hektar übernommen, wofür er drei Raten zu 590 Milreis, insgesamt also 1.770 Milreis zu bezahlen hatte. Im ersten Pflanzjahr 1922/23 baute er mit seiner Frau und den vier Söhnen im Alter von neun bis 14 Jahren einen Hektar mit Baumwolle und vier Hektar mit Mais an. Er erntete 1.241 kg Rohbaumwolle, die er für 1.489 Milreis über die Kolonie verkaufen konnte, sowie 7.200 kg Mais, wovon er 3.000 kg zu insgesamt 600 Milreis verkaufte. Insgesamt nahm er 2.089 Milreis ein, zahlte 590 für sein Land ab und hatte demnach noch ca. 1.500 Milreis zur Deckung weiterer Kosten und als Ertrag.

Marie und Alois Brüstle, welche 22 Hektar übernommen hatten, konnten auf 1,2 Hektar Baumwoll- und drei Hektar Maispflanzung ein Bareinkommen von 2.110 Milreis erwirtschaften, wovon sie 836 Milreis für die erste Rate des Landkaufs verwendeten und damit nur noch 308 Milreis Schulden auf ihrem Grundstück hatten. (82)

Wesentlich zu dieser raschen positiven Entwicklung der Siedlung trug wohl die günstige Verkehrslage bei, lag die Kolonie doch nur wenige Kilometer vom Städtchen Itararé entfernt, das wiederum durch eine Eisenbahnlinie, die Sorocabana-Bahn, mit São Paulo und Santos verbunden war. (83) In etwa zwölf Stunden waren Produkte aus der Kolonie bereits in der großen Stadt. Anfänglich war Itararé von der Siedlung aus nur auf einem Erdweg erreichbar gewesen, der bei schlechtem Wetter unpassierbar wurde. Doch schon 1924 bauten die Siedler aus eigenen Mitteln eine mit Autos befahrbare Verbindung zu einer nördlich gelegenen Autostraße, sodaß die Siedlung — im Vergleich zu den üblicherweise abgelegenen Urwaldkolonien wie Dreizehnlinden — sehr gut erschlossen war. (84)

Allerdings blieb die ökonomische Lage nicht so günstig. 1924/25 suchte eine anhaltende Dürre den Landstrich heim, dazu kamen Waldbrände, die einige Häuser und Pflanzungen vernichteten. Dann erkrankten auch noch viele Familien an einer epidemisch verlaufenden fiebrigen Krankheit, die teilweise zum Tode führte. (85)

Das alles führte zu großen Ernteausfällen. Zudem fielen die Baumwollpreise zusehends, sodaß sich die Kolonisten nach einer neuen Einnahmequelle umsehen mußten. (86)

Weinbau, Imkerei oder der Anbau von Zuckerrohr zur Schnapsgewinnung boten wie Gold- und Diamantensuche im Rio Itararé nur Nebeneinnahmen, konnten jedoch die Baumwolle nicht ersetzen. Erfolgversprechender war da schon die Seidenraupenzucht, wenn es auch einige Zeit dauerte, bis die Maulbeerbäume groß genug waren, um einen Ertrag zu ermöglichen. (87) 1925/26, zu Beginn, konnten gerade 53 kg Kokons verkauft werden, 1929/30 erzielten die Züchter dann schon 8.373 kg Kokons. Die Seidenraupenzucht wurde von staatlichen Stellen wie der "Sociedade Rural Brasileira" unterstützt, da man damit von Einfuhren unabhängig werden wollte und vielleicht auch in der Zeit der Kaffeekrise ein neues Exportprodukt zu gewinnen hoffte. Die Gegend von Itararé eignete sich gut für die Seidenraupenzucht, denn während in Europa ein bis zwei Ernten im Jahr möglich seien, könne man hier fünf- bis sechsmal Kokons ernten. Dies alles berichtete ein Herr Luíz Steurer, der sich "técnico em sericicultura" nannte, 1932 dem in São Paulo erscheinenden "Diário da Noite". (88) Luíz alias Ludwig Steurer stammte aus dem Dorf Langenegg bei Bregenz; er besuchte die Handelsschule in Feldkirch, war dann zwei Jahre kaufmännischer Angestellter in einer Klöppelspitzenfabrik in München, bevor er 1925 nach Itararé auswanderte, wo er 1932 die aus Lustenau stammende Rosa Vogel heiratete. In der Kolonie war er nicht nur Spezialist für Seidenraupenzucht, sondern einige Jahre auch Lehrer an der Kolonieschule, bevor er, so wird berichtet, Kolonie und Schule über Nacht verlassen habe. Darauf eröffnete er in São Paulo ein Speditionsunternehmen mit Reisebüro. Als er im Oktober 1950 Langenegg besuchte, wurde er von der Dorfmusik empfangen und hielt das halbe Dorf im Gasthaus bei einem Umtrunk frei. In der Lokalmeldung einer hiesigen Zeitung hieß es über den Besucher:

"Ohne Geld, nur durch Fleiß und Tüchtigkeit hat sich Herr Steurer zu Wohlstand und Ansehen emporgearbeitet." (89)

Franz Fink, welcher mit seinem verwitweten Vater und fünf Geschwistern 1924 aus Dornbirn ausgewandert war, berichtete im Jahre 1936 über die ökonomische Lage der Kolonie. Demnach lebten die Kolonisten zum Teil in ganz guten Verhältnissen. Das treffe vor allem auf jene zu, die etwas Geld "von drüben" hätten, die kinderreichen Familien kämen jedoch nicht recht hoch. Auch habe eine Krankheitswelle viel Unheil und den Ausfall der halben Ernte gebracht. Für dieses Jahr sei man aber guter Hoffnung und erwarte einen hohen Baumwollpreis. (90)

Wieder wird deutlich, wie eng Gesundheit und ökonomischer Erfolg verknüpft waren. Krankheit bedeutete oft den Verlust der wirtschaftlichen Existenz und das Ende eines Siedlertraums. Die Familie Hollenstein zum Beispiel wanderte 1926 aus Höchst nach Itararé aus. 1935 erkrankte die ganze Familie, die Eltern und drei Kinder, an der Malaria, bald darauf erlag Petronella Hollenstein (geb. Giselbrecht aus Langen b. Bregenz) einer Typhusinfektion, vier Wochen später starb der älteste Sohn, Alois, im Alter von 20 Jahren. Daraufhin zogen Eduard Hollenstein, seine Tochter Rosina und sein Sohn Franz nach São Paulo. Franz baute dort eine Pumpenfabrik auf, in der auch sein Vater arbeitete. Er heiratete Ilse Peter, die aus einer in Santa Catarina ansässigen deutschen Familie stammte. (91)

Hugo Nenning aus Dornbirn brach sich ca. 1924/25 zuerst die Hand, dann bekam er noch die Malaria und zog sich einen Augenschaden zu – das alles war zu viel vor ihn, und er nahm sich das Leben. Seine Frau Anna und ihre drei Buben kehrten nach Vorarlberg zurück. (92) Paulina und Franz Anton Winder starben 1926 an einer Lebensmittelvergiftung. Alois Schoder berichtet, die gesamte Familie König sei an Malaria gestorben. (93)

Vielleicht hätte bei einer besseren ärztlichen Versorgung manches Elend verhindert werden können. Doch waren sowohl Arzt als auch Medikamente sehr teuer, sodaß die Kolonisten an beidem sparten bzw. sparen mußten. (94) Schlimm scheint die Kindersterblichkeit gewesen zu sein. Kinder unter zwei Jahren hätten, so berichtet Pfarrer Meusburger, die Reise und den Klimawechsel generell nicht überstanden, doch auch unter den in Itararé geborenen Kindern war die Sterblichkeit groß. Mathilde und Fritz Preiß – drei ihrer Enkelkinder starben an Magen-Darm-Infektion – führten das weniger auf den Klimawechsel als auf Milchmangel bzw. Mangelernährung zurück. (95)

Einen der wenigen Höhepunkte der Geschichte dieser landwirtschaftlichen Siedlung bildeten sicherlich die Feierlichkeiten zu ihrem zehnjährigen Bestand am 22. November 1931. An ihnen nahmen der österreichische Botschafter in Rio, Anton Retschek, sowie der österreichische Konsul in São Paulo, Theodor Putz, teil. Ein Besuch des Vizekonsuls Rudolf Grabher ist nicht überliefert, auch nicht von Vertretern brasilianischer Institutionen. Die Festveranstaltungen umfaßten einen Vortrag über die Arbeit der landwirtschaftlichen Genossenschaft, Rollenspiel und Gesang, abendlichen Tanz und Tombola. Der Erlös kam der Schulkassa zugute. (96)
ZU KAPITEL 12
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