15 - Aus Koloniein Stadt

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Aus der Kolonie in die Stadt


Eine Beschleunigung im Prozeß der Brasilianisierung brachte — neben dem brasilianischen Nationalismus und der Tatsache, daß mit dem verlorenen Zweiten Weltkrieg der Deutschnationalismus weitgehend diskreditiert war (120) — ein Wechsel weg von der Kolonie in die Industriewelt der multiethnischen Großstadt São Paulo oder auch in andere Städte, wie ihn früher oder später die meisten der Kolonisten wagten. (121)

Die ersten, welche die "Kulturschleuse" (122) in Richtung Stadt verlassen hatten, weil das Leben als Bauer auf dem Land nicht das bieten konnte, was sie sich erwartet hatten, waren Dr. Rudolf Grabher und seine Verwandten gewesen. Alwin Klocker zog 1929 in die Stadt Itararé, wo er einen Posten als Landvermesser in der städtischen Verwaltung antrat. (123) Ihm gleich taten es sehr viele Siedler, die teilweise nur wenige Jahre ein Kolonielos bewirtschaftet hatten, bis sie mit dem neuen Land und seinen Gegebenheiten so vertraut waren, daß sie die zwar zerstrittene, aber doch vertraute Gemeinschaft der Landsleute verließen und sich wirklich auf den Weg nach Brasilien machten. Es sieht auch so aus, als seien Einwanderer wirtschaftlich und gesellschaftlich erfolgreicher gewesen, die sich früher auf den Weg in die Stadt gemacht hatten, als jene, die länger Bauern auf der Kolonie geblieben waren. (124) Industriearbeit bzw. Handwerksarbeit im industriellen Umfeld war zwar, sowohl was die Entlohnung als auch was den arbeitsrechtlichen Status anlangte, durchaus schlechter gestellt als in Österreich — aber es gab keine mit der europäischen vergleichbare Arbeitslosigkeit unter den für die Anforderungen der industrialisierten Welt qualifizierten Einwanderern. (125) Auch war der Aufstieg in die gesellschaftliche Mittelschicht in Industrie, Gewerbe oder Handel leichter zu erreichen als durch Landarbeit. (126) Und die Einwanderer aus Vorarlberg waren besser darauf vorbereitet, am wirtschaftlichen Aufschwung des Großraums São Paulo teilzuhaben als jener große Teil der Einwanderer in dieser Zeit, die nicht lesen und schreiben konnten. (127) Johann Nagel, 1926 aus Höchst ausgewandert, schilderte in den fünfziger Jahren seinen ökonomischen Werdegang in knappen Worten:

"... dann ging es zu den Vorarlbergern, wo wir drei Jahre als Landwirte mit Entbehrungen und primitiv (lebten), wie es in der Heimat nicht zu verstehen ist. Dann in São Paulo als Maler, Säger, Autoreifenflicker gearbeitet. Reise nach Argentinien mit allerlei Erlebnissen. Dann fing das Reisen an, Zigeunerleben, Suche nach dem Glück. Seit 1934 selbständig, einen Molkereibetrieb. Erlebnisse, Enttäuschungen, Aufschwung und Niederlagen. Aber meine eiserne Natur hielt immer Stand." (128)

Viele Auswanderer hatten eine so bewegte Berufslaufbahn wie Johann Nagel. Albert Blum war in Brasilien Metallarbeiter, dann Landwirt bei Itararé, er betrieb eine Gemischtwarenhandlung und ein Sägewerk, dann war er wieder Landwirt und später wieder Kaufmann. Männer ergriffen in der Stadt oft technische bzw. gewerblich-industrielle Berufe. So baute Franz Hollenstein, Sohn des 1926 aus Höchst ausgewanderten Eduard Hollenstein, eine Pumpenfabrik auf. Adolf Klotz konstruierte und baute Bewässerungsanlagen. Eduard Hofer aus Lustenau war bald von Itararé nach São Paulo gezogen, wo er Arbeit in einer Kabelfabrik fand. Seine fünf Söhne übten in den fünfziger Jahren folgende Berufe auf: Mechaniker, Spengler, Elektrotechniker, Fabriksarbeiter und Selbständiger. Eine Tochter war schon verstorben, die andere verheiratet und Hausfrau. (129) Der HTL-Schüler Wilhelm Thurnher aus Hard baute zuerst in einer technischen Werkstatt Alarmglocken, später wurde er in São Paulo technischer Leiter einer Fabrik. (130)

Auf dem Land hatte die Familie als ganze stets ähnliche Arbeiten ausgeführt, (131) in der Stadt standen Frauen typische Berufe aus dem Dienstleistungsbereich offen. Obwohl es auch in der Industrie Frauenarbeitsplätze gab (etwa in der Textil- und Bekleidungsindustrie (132) ), scheinen diese für aus Vorarlberg eingewanderte Frauen nicht attraktiv gewesen zu sein. Viele arbeiteten als Kosmetikerinnen, Friseusen, Haushälterinnen etc. Mathilde, Tochter von Oscar Rhomberg, war in der Stadt Itararé Kassierin, ihre Schwester Irmgard ebendort Sekretärin. Rosa Blum-Hees, die 1921 aus Dornbirn ausgewandert war, faßte 1953 ihr Arbeitsleben zusammen, das sie von der Kaffeeplantage über die Vorarlberger Siedlung bei Itararé in die großen Städte São Paulo und dann Rio de Janeiro geführt hatte, "... wo ich mich schwer mit Nähen, später bessere Stellung im Hotelwesen durchgeschlagen habe. Heute habe ich wieder meinen eigenen Haushalt." (133)

Bis Mitte der dreißiger Jahre wurden die aus der "Colónia Austria" abwandernden durch neu ankommende Siedler ersetzt. Dann jedoch ging ihre Zahl stetig zurück, sodaß heute gar nur noch ein Nachfahre der Erstansiedler dort Landwirtschaft betreibt. Im Städtchen Itararé selbst hingegen, vor allem aber in der Agglomeration São Paulo, wohnt eine recht bedeutende Anzahl von Nachfahren dieser Einwanderer aus Vorarlberg.

1956 feierten Auswanderer und deren Kinder den 35. Jahrestag ihrer Einwanderung nach Brasilien mit einem Treffen in São Paulo, das Luíz Steurer organisierte. Radio Vorarlberg hatte eine Sendung mit Volksmusik und Mundartgedichten zusammengestellt, welche zum Weihnachtsfest 1956 von einem Sender in São Paulo ausgestrahlt wurde. (134)

Als sich dann Ende der sechziger Jahre der Innsbrucker Volkskundler Karl Ilg auf die Suche nach dem Deutschtum in Brasilien machte, wurde er bei Itararé nicht mehr fündig. Die Siedlung existierte nicht mehr, und Ilg erblickte darin ein "Mißlingen" des Vorhabens der Siedler. (135) Doch ist ihm, der hier stellvertretend für eine ethnozentristische, deutschtümelnde Betrachtungsweise genannt sei, welche vor allem Brauchtumspflege und Spracherhalt in den Mittelpunkt ihres Interesses stellt, bei seiner Bewertung dieses Migrationsprojekts zu widersprechen. Denn es ist keineswegs gescheitert. Vielmehr gelang der Mehrzahl der in Brasilien Verbliebenen der Aufstieg in die brasilianische Mittelschicht. Der Wechsel aus dem hochindustrialisierten Vorarlberg in den industrialisierten Teil der brasilianischen Gesellschaft war geglückt – über die Start- und Zwischenstation einer kleinen landwirtschaftlichen Kolonie.
ZU KAPITEL 16
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