8 - Der Beginn Schwierigkeiten

Dokumentation

Zur Übersicht

Der Beginn: Schwierigkeiten und Zwistigkeiten


Dr. Rudolf Grabher faßte wenige Monate nach seiner Ankunft in einem Brief an die österreichische Auskunftstelle für Auswanderer den Beginn so zusammen:
"Also: Glückliche Fahrt, fröhliche Ankunft, keine Vorbereitungen, kein Land vermessen, lange Gesichter, gemeinsame Arbeit auf der Fazenda, Straßenbau, Streit und Zank, Hunger, Schulden — Elend."

Ihm habe man das Leben auf der Kolonie unmöglich gemacht, daher habe er sie gemeinsam mit seinen Verwandten verlassen und sei jetzt Bauarbeiter und Eisenbieger bei der Firma Riedlinger in São Paulo. (37)

Christian Wiederin schrieb am 8. April 1922 aus Itararé an einen Freund:
"Die Communezeit, in welcher wir (die ganze Gruppe mit Ausnahme Dr. Grabher, seine Schwester, Schwager, Bruder und Schwägerin) mitsammen lebten und gemeinsame Arbeiten wie Straßenbauen, Schindelmachen etz. verrichteten, ist nun so gut wie zu Ende. Jede einzelne Familie baut gegenwärtig ihr Wohnhaus, welches mitunter sehr einfach, von andern wieder etwas besser ausgeführt wird. ... Unsere Ansicht ist, daß Herr Klocker verschiedenes anders machen hätte können u. sicher ein zweitesmal macht u. dennoch nicht allen recht trifft, aber über Vergangenes zu sprechen (mit hätte und hätten) ist dumm u. kann man sich nur Lehren daraus ziehen für die Zukunft." (38)

Bei der Ankunft jedenfalls war längst nicht alles so, wie es sich die Ankommenden erhofft oder erwartet hatten. Ein in Genua abgesandtes Telegramm erreichte Klocker nicht, sodaß der von der Ankunft der ersten Gruppe überrascht wurde. Es waren noch keine Lose vermessen, das Land war mit Buschwald bestanden und mußte gerodet werden. Pfarrer Josef Meusburger, der im Auftrag der Auskunftstelle für Auswanderer 1922/23 die Siedlung besuchte, meinte, die Ankunft habe manche insofern enttäuscht, als sie einer Illusion erlegen gewesen waren:
"Nun stellt sich aber der Europäer die Vorbereitungen anders vor als der Brasilianer und zudem nimmt er allzugerne an, man habe in Brasilien auf ihn gewartet und die dortigen Einwohner seien voll Verlangen, ihm europäische, fortschrittliche Wirtschafts-Methoden abzulauschen. Dem Schreiber ist noch gut in Erinnerung, daß einzelne sich den Empfang drüben in der Weise vorstellten, daß die Stadtmusik und die Honoratioren am Bahnhof stünden und sie unter Tusch und Toast aus dem Wagen steigen würden. ‘Einen Tusch gab es allerdings, aber einen kalten, ein paar gaffende Mäuler, das war alles’ schrieb einer in seinem Ärger." (39)

Die Ankommenden waren zuerst in Itararé untergebracht. Am 1. Dezember dann zogen sie hinaus auf die Fazenda da Corredeira, wo die Kolonie entstehen sollte. Dort bezogen sieben Familien eine große Baracke, die sie "Vorarlberger Hof" nannten, drei weitere wohnten vorerst im nahe gelegenen Haus Klockers. Gekocht wurde gemeinsam, morgens Milchkaffee — mit wenig Milch, da die vier Kühe nicht viel gaben — und geschmalzener Riebel. (40) Mittags gab's dann Bohnen und Reis oder Reisfleisch, abends wieder Bohnen, Kaffee und Riebel. Alle zwei Wochen schlachteten sie ein Schwein, das sie — eine Eigenart dieser fleischarmen und fettreichen Schweine — vorwiegend mit Schweineschmalz versorgte. Diese Ernährung wurde beibehalten. Wie Milch blieb auch Brot ein rarer Luxus, denn es mußte selbst gebacken werden, und der aus Argentinien eingeführte Weizen war teuer. Daher mischte man Weizen- mit Maismehl, und man verwendete Tapioka, das Stärkemehl des Maniok. (41) Auch wuchs hier nicht das aus Vorarlberg vertraute Obst; statt Äpfeln, Birnen und Zwetschken gab es etwa Orangen und Bananen.

DieMänner machten zuerst "Roca", d.i. Brandrodung. In die Asche hinein wurden vorerst noch gemeinschaftlich Mais, Bohnen und Maniok angebaut. Das Land war im Brandrodungs-Wanderfeldbau mit langen Brachzeiten zuvor schon dreimal bebaut worden, zuletzt vor fünf bis acht Jahren. Die Bauern, die hier lebten, hatten allerdings keine Besitztitel auf dieses Land, es war Eigentum der Großgrundbesitzer geblieben. Mit der Ankunft der Einwanderer ereignete sich auf dem Land dasselbe wie in den städtischen Agglomerationen: Farbige Einheimische, in unserem Fall die sogenannten Caboclos, wurden durch weiße Immigranten verdrängt. (42)
Zurückgeblieben waren verlassene Hütten, umstanden von Orangen-, Pfirsich- und Quittenbäumen. Klocker hatte von einem aufgelassenen Sägewerk in der Nähe zwölf weitere Hütten aus gesägten Brettern erstanden, die dort abgetragen und nun gemeinsam neu aufgestellt wurden, auch baute man miteinander eine Straße durch die Kolonie. Die einzelnen Lose wurden vermessen, und jeweils vier Familien, die Nachbarn sein wollten, taten sich zusammen und zogen als Gruppe ihr Landlos.

Alois Schoder beschreibt in seinen Erinnerungen die Siedlerhäuser, wie er sie im Sommer 1923 antraf:
"Die von den Siedlern in gemeinschaftlicher Arbeit nach eigenem Stil aus Pinienholz sehr schmuck aufgebauten Häuser lagen mehr oder weniger weit abseits der Straße, meistens in den windgeschützten Vertiefungen. Sie waren des Ungeziefers wegen meistens etwas erhöht über der Erde, eingeschossig und fast alle hatten noch eine Veranda. Das Innere bestand aus Zimmer, Küche, Kammer, oft noch einer zweiten Kammer. In der Küche befand sich ein aus Europa mitgebrachter Sparherd, in der Stube außerdem noch eine Nähmaschine. Die meisten hatten überdies noch eine Kuh oder eine Ziege, ein Reitpferd und ein oder mehrere Schweine sowie auch Hühner." (43)

Im Laufe der Jahre wurden diese ersten Hütten durch Holzhäuser mit großen, teils umlaufenden Veranden ersetzt, die auf kurzen Pfählen standen.

Die Frage, warum sich Grabher letztlich von der Einwanderergruppe trennte, ist schwer zu beantworten. Jedenfalls war er mit einem ausgearbeiteten Siedlungsstatut nach Brasilien gekommen. Und es bleibt unklar, inwieweit seine Vorstellungen mit der maßgeblich durch Alwin Klocker gestalteten Realität übereinstimmten bzw. kollidierten. Zudem erkrankte Grabhers Bruder Josef so schwer, daß er im Krankenhaus von Itararé operiert werden mußte – daß es ein so nahe gelegenes Krankenhaus überhaupt gab, unterscheidet diesen Ansiedlungsversuch von den meisten übrigen.
Auch Grabhers Schwager Gebhard Hofer zog sich in der Kolonie ein Magen- oder Darmleiden zu, das dann in einem Krankenhaus von São Paulo behandelt werden mußte. Josef Grabher und seine Frau fuhren — durch den Krankenhausaufenthalt finanziell ruiniert — auf Vermittlung Rudolf Grabhers bald nach Vorarlberg zurück. (44) Gebhard und Katharina Hofer kehrten 1923 nach Lustenau zurück; sie war schwanger geworden und wollte ihr Kind nicht in Brasilien zur Welt bringen. (45)

Auch dürfte Rudolf Grabher recht schnell erkannt haben, daß das mühevolle Leben in der Kolonie nicht dem entsprach, was er sich von der Auswanderung erhofft hatte.

Über die Motive der meisten dieser Auswanderer kann man nur Vermutungen anstellen. Es ist in den Berichten vor allem von Stickern die Rede, welche diese "Colónia Austria" begründet haben solle (46) Tatsächlich waren verschiedene Berufsgruppen vertreten. Daß auch etliche Sticker darunter waren, verwundert nicht, bedenkt man die große Stickereikrise im Vorarlberg jener Zeit und die frühere Bedeutung dieses Gewerbes. (47)

Das vorliegende Material reicht für Aussagen über den Auswanderungsgrund und die Motivenlage nicht aus Sicher ist jedoch, daß bei weitem nicht alle Landwirte waren, die in den offiziellen Listen als solche firmierten, denn Brasilien förderte ausschließlich die Ansiedlung von Landwirten. Andererseits war Vorarlberg zwar das höchstindustrialisierte Bundesland der Republik Österreich, die Zersplitterung des landwirtschaftlichen Besitzes verbunden mit der landwirtschaftlich-industriellen Mischökonomie in vielen Vorarlberger Familien hatte jedoch zur Folge, daß tatsächlich viele Vorarlberger Industriearbeiter oder Handwerker über landwirtschaftliche Erfahrungen verfügten.

So auch Dr. Rudolf Grabher. Für ihn und seine Motive gibt es einige Anhaltspunkte, da die Behörden über ihn Erkundigungen einholten, nachdem er sich von São Paulo aus um ein Empfehlungsschreiben an die Auskunftstelle für Auswanderer gewandt und dort auch nachgefragt hatte, ob er als gelernter Jurist für eine Konsulatsstelle in Frage käme. Grabher sei demnach vor dem Krieg bei einem Notar beschäftigt gewesen, habe aber nach seiner Heimkehr aus dem Krieg keine entsprechende Stelle mehr gefunden. Auch habe er die Hoffnung auf Besserung der europäischen Verhältnisse aufgegeben und sich deshalb um eine Auswanderung bemüht. Bei ihm wie den anderen Auswanderern aus Vorarlberg dürfte nicht allein das ökonomische Elend und die Erwartung einer goldenen Zukunft auf der anderen Seite des Atlantiks ausschlaggebend gewesen sein, sondern vielmehr das Gefühl, in Vorarlberg die schmerzlich empfundene Differenz zwischen den ans Leben gestellten Ansprüchen und der beengten Realität nicht so leicht überbrücken zu können wie in Südamerika. Die allgemeine Verarmung als Folge des Weltkriegs dürfte diese Spanne zwischen Erwartung und absehbarer Zukunft für viele empfindlich erweitert haben. Alois Schoder, der dreimal in Südamerika sein Glück versuchte, schrieb von den "kleinlichen Verhältnissen" seiner Heimat, vom "Leben voll Arbeit und Mühen ohne höheres Ziel, ohne Möglichkeit, jemals hochzukommen". (48)

Rudolf Grabher gelang, was wenigen glückte. Er ging als Bauarbeiter nach São Paulo, bekam dort rasch einen Büro-Job und wurde bald darauf zum österreichische Honorar-Vizekonsul in São Paulo bestellt. (49) Er heiratete 1924 mit Ottilie Bratke die Tochter eines wohlhabenden deutsch-brasilianischen Kartonagenfabrikanten, für dessen Unternehmen er dann auch arbeitete. Sein 1926 fertiggestelltes ansehnliches Haus in São Paulo zeigt den Aufstieg ins Bürgertum der Stadt an, dem die Kinder und Enkelkinder heute angehören. (50)
ZU KAPITEL 9
Share by: