9 - Der Streit Grabher Klocker

Dokumentation

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Der Streit Grabher - Klocker:
Alte Kommunikationskanäle in der neuen Welt


Auf die Kolonie allerdings und vor allem auf Alwin Klocker blickte Rudolf Grabher im Zorn zurück. Schon als Dezember 1921 eine zweite Gruppe von elf Familien in São Paulo eintraf, reiste er ihr entgegen und warnte sie derart eindringlich vor Itararé, daß die Gruppe sich Arbeit auf Kaffeeplantagen suchte. Auch wurde dieser Konflikt zwischen Grabher und Klocker mittels "Kolonistenbriefen" in den Vorarlberger Tageszeitungen ausgetragen, sodaß die Vorarlberger Ansiedlung am Rio Itararé ins Zwielicht geriet.
Im deutschnationalen "Vorarlberger Tagblatt" vom 20. April 1922 findet sich ein in antiklerikalem Ton gehaltener "Brief aus Südamerika", in welchem Klocker — ohne ihn beim Namen zu nennen — beschuldigt wird, die Kolonisten "an der Nase herumzuführen, damit er unser Geld in seine geldgierigen Hände bekomme".

Doch auch die Verhältnisse auf der Kaffeeplantage waren nach diesem Schreiben bedrückend, und eine Familie nach der anderen verlasse sie, um anderswo ihr Glück zu versuchen. Die Bewohner von "Santa Escolástica" erhielten von diesem Artikel Kenntnis und antworteten ihrerseits mit einem "Brief aus Brasilien" im christlichsozialen "Vorarlberger Volksblatt" vom 22. August 1922. Neun Männer, die Familienoberhäupter von neun Familien, verteidigten Alwin Klocker und seine Leistung und beschuldigten Grabher, die Kolonie nur deshalb verlassen zu haben, weil ihm keine privilegierte Stellung eingeräumt worden sei. Ihre Unterschriften ließen sie von einem Notar aus Itararé beglaubigen.

Ein Jahr später druckte das katholische "Volksblatt"einen Brief ab, den Pfarrer Josef Meusburger im Februar 1923 aus São Paulo an den Dornbirner Schuldirektor Klocker, den Vater des Alwin Klocker, gerichtet hatte, und der eine klare Stellungnahme für Klocker war. Er beschreibt die Siedlung bei Itararé als einen gelungenen Auswanderungsversuch, der sich vom vielen Elend abhebe, das er sonst unter den Einwanderern in Südbrasilien vorfand. (51)

Das alles verweist auf interessante Kommunikationsstrukturen und eine deutliche Orientierung an der alten Heimat sowie an der hiesigen politischen Landschaft: Differenzen in Brasilien werden in Vorarlberger Tageszeitungen ausgetragen, wenn auch mit technisch bedingten größeren zeitlichen Verzögerungen. Unter den Kolonisten befanden sich Anhänger der drei wesentlichen politischen Richtungen, mehrheitlich wohl Christlichsoziale, dann bemerkenswert viele Sozialdemokraten und auch Deutschnationale, die jeweils an "ihre" Zeitung berichteten. Die Kolonisten erfuhren recht schnell, was in Vorarlberg über sie und ihr Unterfangen berichtet wurde, teils aus Briefen, teils weil sie sich ihre Vorarlberger Zeitung nachschicken ließen. (52) Umgekehrt wiederum bildeten die zahlreichen Berichte über Itararé — kein anderes Auswanderungsprojekt erreichte in Vorarlberg ein ähnlich hohes Maß an Öffentlichkeit — eine wesentliche Informationsquelle für weitere potentielle Auswanderer. Neben Briefen, die den Redaktionen zum Abdruck überlassen wurden, waren dies auch die umfangreicheren, direkt an die interessierte Öffentlichkeit adressierten Berichte von Pfarrer Josef Meusburger im Katholischen Volkskalender 1925, (53) von Alois Schoder im "Vorarlberger Volksblatt" 1926 (54) sowie von Fritz Preiß in seiner informativen Broschüre aus dem Jahre 1925 . (55)

Weitere bedeutsame Informationsquellen für potentielle Auswanderer waren Lichtbildervorträge, die – voneinander unabhängig – vor allem vom sozialdemokratischen Politiker und Landesrat Fritz Preiß und von dem Lustenauer Handelsschullehrer Rudolf Schneider im ganzen Land über die Auswanderung nach Brasilien gehalten wurden. (56) Wenngleich die meisten dieser Berichterstatter, vom heute unbekannten Inhalt der Lichtbildervorträge abgesehen, keineswegs unkritisch die Auswanderung anpriesen, waren doch alle drei nicht prinzipiell abgeneigt: Meusburger spielte mit dem Gedanken auszuwandern, Preiß versuchte ein großes Auswanderungsprojekt zu initiieren, (57) und Schoder war schließlich selbst Kolonist in Itararé. Wenig wissen wir allerdings darüber, wie die Zeitgenossen diese Informationen aufnahmen und verarbeiteten.

Der Lustenauer Albert Fitz ist jedenfalls von seinem Handelsschullehrer Rudolf Schneider zur Auswanderung angeregt worden. Er fuhr 1929 mit zwei Kollegen nach Itararé, wo er auf dem Besitz der Lustenauer Familie Bösch einige Jahre arbeitete, bevor er wieder nach Lustenau zurückkehrte. Schneider habe zwar immer wieder gesagt, er wolle niemanden zwingen zum "ihigoh", d.h. nach Amerika "hineinzugehen". Dennoch hätte er sie auf den Gedanken gebracht, nach Itararé zu schreiben, ob sie kommen könnten. Bei ihrer Ankunft dann habe man ihnen ausführlich "vorgepredigt", was sie tun sollten und was nicht. Vor allem sollten sie sich vor stehenden Gewässern und brasilianischen Frauen in acht nehmen, denn in beiden könne man sich anstecken. Fitz entstammt zwar einer im Verlaufe der Stickereikrise Pleite gegangenen Lustenauer Fabrikantenfamilie, nennt als seinen Auswanderungsgrund jedoch die Liebe zur Landwirtschaft. In Lustenau habe er nicht genug Boden geerbt, um Landwirt werden zu können. (58)

Diese Kommunikationsstrukturen haben sich mit der Brasilianisierung der Immigranten wesentlich geändert. Vor allem dürfte der Bruch, den der zweite Weltkrieg hier bedeutete, die Integration in die brasilianische Gesellschaft beschleunigt haben, wenngleich in manchen Familien der Briefwechsel bis heute anhält, ja manchmal sich die Kontakte in den letzten Jahren vertieften, weil sich einige — begünstigt durch den Fernreiseboom und die billigeren Flüge — auf die Suche nach den Verwandten machten. Jedenfalls: Der Sohn von Franz und Katharina Klotz aus Lustenau heißt Adolfo Klotz , lebt in São Paulo und schrieb sein Gedicht "Memórias de um imigrante" zur fünfzigjährigen Wiederkehr der Begründung der Kolonie im brasilianischen Portugiesisch und veröffentlichte es in der "Tribuna de Itararé". (59)
ZU KAPITEL 10
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